Rede anlässlich des Weltfriedenstag, St. Gallen, 18.09.2021
Mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit, mehr Umwelt- und Klimaschutz.
Die 6 Symbole zu den 6 Facetten der Friedenskultur
Liebes Publikum,
Ich empfinde unsere Zeit als sehr wackelig, porös, zersplittert. Viele Menschen sind angeschlagen, viele Beziehungen auch. Ich freue mich deshalb besonders, dass wir hier zusammenkommen, um uns gegenseitig zu ermutigen, zu inspirieren, Halt zu geben.
Weltweit gibt es laut IKRK über 100 bewaffnete Konflikte. Wir erleben eine Erschütterung nach der anderen und verharren in Lösungslosigkeit bei der Eindämmung von Gewalt, über Jahre, teils über Jahrzehnte. Afghanistan, Myanmar, Armenien&Aserbaidschan, Libanon, Syrien und Yemen… die Liste ist unvollständig und doch erdrückend.
Gleichzeitig ist in der Schweiz zu beobachten, wie die Monate seit Beginn der Pandemie an unserer Gesellschaft zehren, an unserem Zusammenhalt, an unserer Demokratie. Die Schweiz bröckelt. Fronten verhärten sich, "Ein Virus verwandelt die Willensnation in einen Ort der Feindschaft und Nulltoleranz", titelt die NZZ Ende August.
Krisen machen Missstände sichtbar und die jetzige führt uns vor Augen, dass es schlecht steht um die Friedenskultur in der Schweiz. Das Friedensbarometer erlebt einen Tiefgang.
Gleichzeitig sehe ich ein grosses Potential, dass uns diese Krise nicht schwächer macht, sondern uns aufweckt. Ein Weckruf, den die Schweiz so dringend braucht, um uns daran zu erinnern, dass Frieden nicht eine Errungenschaft ist, sondern ständige Pflege braucht. Dass Frieden etwas sehr Zerbrechliches ist, etwas Hochkomplexes, etwas, das immer wieder erstaunlich schnell aus dem Gleichgewicht geworfen wird.
Was braucht die Schweiz, um zurückzufinden zu Gesprächskultur und Zusammenhalt, zum Interesse an der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, an der Vielfalt, an der Dissonanz?
Gerade jetzt können Personen und Institutionen der Friedensbewegung und der Friedensförderung eine wichtige Rolle spielen. Erfahrungen und Wissen einbringen, um Räume zu schaffen, wo Dialog und Begegnung möglich sind, wo Gehässigkeiten de-eskaliert werden ohne dass Probleme und Differenzen unter den Tisch gewischt werden.
Aus dem Verständnis heraus, dass Frieden mehr pro-aktive Pflege braucht, haben wir letztes Jahr den Verein Forum für Friedenskultur gegründet. Unsere Vision ist es, dass schweizweit eine aktive Friedenskultur gelebt wird, die alle Lebensbereiche, Sektoren und Departemente und gesellschaftlichen Gruppen einschliesst. Eine Friedenskultur, die sich ausdrückt in friedensförderndem Denken und Handeln im Privaten, im Unternehmerischen, im Bildungswesen, in den Medien und im öffentlichen Raum.
Was bedeutet Friedenskultur, hier und jetzt? Um darauf zu antworten, möchte ich 6 Facetten von Friedenskultur vorstellen:
Friedenskultur als kollektiver Auftrag.
Friedenskultur ist eine Wortzusammensetzung, ein Bindestrich zwischen Frieden und Kultur. Wir verstehen Frieden als etwas, das nicht alleine in der Aussenpolitik angesiedelt ist, sondern ein kollektiver, transversaler und permanenter Auftrag ist, zu dem alle einen Beitrag leisten können und müssen, damit er langfristig bestehen bleibt. Frieden & aktive Gewaltfreiheit sollten als Referenzrahmen dienen für sämtliche Departemente, für Unternehmen, Schulen und Gemeinden.
Wie kann ein so ganzheitlich gedachter Friedensbegriff umgesetzt werden und wer wäre dafür zuständig? Vielleicht brauchen wir
ein neues Departement für Frieden (wie dies die Integrale Politik fordert)
eine interdisziplinäre "Arbeitsgruppe Frieden" mit staatlichen, zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Vertreter:innen, die gemeinsam eine Strategie für Frieden&Sicherheit ausarbeiten.
ein Nationales Kompetenzzentrum für Konfliktlösung und Dialog,
ein Schulfach zum Erlernen und Üben gewaltfreier Methoden,
einen Friedensdienst als Alternative zum Militär- und Zivildienst,
Leitlinien für einen polarisierungshemmenden Journalismus
Und vieles mehr.
Friedenskultur als Identität.
Friedenskultur bedeutet auch, dass wir Frieden als verbindenden, identitätsstiftenden Auftrag verstehen. Die Schweiz präsentiert sich immer wieder erfolgreich als Friedensnation. Doch ist sie das wirklich? Ihr friedensförderndes Engagement in Konfliktgebieten ist unbestritten, doch innerhalb der Schweiz ist Frieden ein rein theoretischer Begriff. Konventionen, Definitionen und eine Verfassung reichen für die Bildung einer Identität nicht aus, Frieden fordert eine permanente, prinzipientreue Haltung, einen Lebensstil, der gelebt wird gegen innen wie gegen aussen. Aussenpolitik ist Innenpolitik, wie unser Aussenminister sagt. Das bedeutet, dass Friedensaussenpolitik auch Friedensinnenpolitik zu sein hat. So ist diese Friedenskultur auch zu verstehen als ein kulturelles Erbe, das gepflegt und weitergegeben wird an die nächsten Generationen.
Friedenskultur als kreativer Prozess.
Friedenskultur bedeutet auch eine enge Verbindung mit dem kreativen Schaffen, mit den Künsten. Für meinen Blog "PeacePrints – Friedensreportagen aus Kriegsgebieten" reise ich in Konfliktregionen und begleite Friedensstifterinnen und Friedensstifter. Dabei erlebe ich, dass es oft kulturelle Aktivitäten sind, die erste Brücken schlagen und die eine Überwindung von Gräben und schmerzhaften Verletzungen möglich machen. Kultur kann so wesentlich dazu beitragen, dass eine tiefe persönliche und gesellschaftliche Transformation gelingen kann. Die Kultur agiert auch als Vermittlerin: Ihr gelingt es immer wieder, wichtige Themen zugänglicher zu machen als dies die Wissenschaft oder die Politik vermag. Kern der Kreativität ist das Schöpferische, die Vorstellungskraft Dinge anders zu denken und zu gestalten, als wir sie gewohnt sind. Dazu gehören auch die Lust und der Mut Neues und Unerwartetes zu wagen. In Kriegsgebieten sagt man mir oft, das erste, was im Krieg verloren geht ist die Vorstellungskraft. Gleichzeitig ist es etwas vom Wertvollsten, was wir besitzen, um einen gesellschaftlichen Wandel zu ermöglichen.
Friedenskultur als Gemeinschaft.
Friedensarbeit ist eine sehr nervenzehrende Arbeit. Sie braucht enorm viel Geduld und Resilienz. Die Widerstände sind immens, und ebenso die Enttäuschungen und Verzweiflungen. Wir haben dieses Jahr den Ilanzer Sommer lanciert, ein Friedensforum in den Bündner Bergen. Zu Besuch war auch Jean-Paul Lederach, eine Koryphäe der Friedensarbeit, der als Wissenschaftler und Praktiker die Friedensförderung tiefgreifend prägte und prägt. Wir fragten ihn, wie er in diesem belastenden Umfeld den Mut und die Zuversicht aufrechterhalte. Sei Rat ist es, sich in Gruppen, in Gemeinschaften zusammenzutun, um der Resignation widerstehen und sich gegenseitig über die Momente der Frustration hinwegzuhelfen. Deshalb sind Veranstaltungen wie heute so wichtig und ich bedanke mich bei Ihnen, dass sie diese Gemeinschaft mittragen.
Friedenskultur als Weg der Achtsamkeit.
Es erstaunt mich immer wieder, wie es möglich ist, dass gerade in der Friedensarbeit die Tendenz gross ist, auszublenden, dass man selbst dem nicht-friedlichen Denken verfällt. In Armenien muss ich mir anhören: Wir wollen Frieden, deshalb müssen wir die Türken ausrotten. In Myanmar: Wir fördern den Zusammenhalt in unserem Land, deshalb müssen die Rohingyas raus, die gehören nicht hierher. Im Irak: Wir müssen die Frauen und Kinder der IS-Kämpfer vernichten, sonst gibt es keinen Frieden. Zu schnell verfallen wir dem Glauben, der andere sei das Problem. Friedenskultur bedeutet also auch, achtsam und wach zu sein, inbesondere sich selbst gegenüber. Leben wir nach den eigenen Prinzipien? Wie reden wir über und mit unseren "Feinden"? Unterstützen wir die Schaffung von Feindbildern, das "Wir-gegen-sie-Denken"? Oder sind wir fähig, uns tatsächlich auf Augenhöhe mit denen zu treffen, die gegenseitige Positionen vertreten ohne diese als falsch zu verurteilen?
Mir erscheinen diejenigen Personen am glaubwürdigsten, die ihr politisches Engagement verbinden mit einem Engagement im Bereich der Selbstkenntnis, wie z.B. Thich Nhat Hanh, der vietnamesische Mönch und spirituelle Lehrer, der sich als Aktivist für Frieden und Gerechtigkeit in Vietnam einsetzte.
Was nützen uns die Erkenntnisse zu gesellschaftlichen und friedensfördernden Prozessen, wenn es uns nicht gelingt, diese im Privaten anzuwenden?
Was nützen uns die Erkenntnisse aus der Persönlichkeitsarbeit oder spirituellen Praxis, wenn wir sie nicht auch ins Gesellschaftliche übertragen?
Friedenskultur als lebendiges Konzept.
Nicht zuletzt, das haben mir meine letzten Bergwanderungen entlang von Gletschern und Bergbächen wieder vor Augen geführt, bedeutet Friedenskultur Lebendigkeit. Frieden ist kein starres Korsett, in das man die Welt reinquetschen kann. Frieden ist in Bewegung, Frieden ist Bewegung. Friedenskultur kann nur überleben, wenn sie geschmeidig und wandelbar bleibt und wenn sie behutsam mit der Zeit mitfliesst und dabei gleichzeitig mit ihrer Quelle verbunden bleibt.
Mit diesem letzten Punkt möchte ich meinen Beitrag zum Weltfriedenstag abschliessen. Ich wünsche uns allen eben diese Lebendigkeit, Achtsamkeit, Gemeinschaft, Kreativität, innere und äussere Haltung und das kollektive Denken und Handeln bei der Arbeit an unserem anspruchsvollen Ziel.
Danke.
Vielen Dank an den Friedensrat, Frieden Ostschweiz und die Friedensregion Bodensee und viele andere, die sich schon seit Jahrzehnten für Frieden in und ausserhalb der Schweiz einsetzen.
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